Hört ihr’s wimmern aus der Erde?

Hört ihr’s wimmern aus der Erde?
Hört ihr’s dröhnen durch die Lüfte?
Stürzt die Welt in Rauch und Flammen?
Öffnen Gräber sich und Grüfte,
Bleiche Schreckgestalten speiend,
rauchgeschwärzte blut’ge Leichen,
Die, geballt zu wüstem Knäuel,
noch die starre Hand sich reichen?

Wehe, wehe, daß die Sonne diesem Tag
voll Nacht und Grauen
Ihres Auges Strahl geliehen,
daß sie leuchtend kam zu schauen;
Wie ein Volk in heil’gem Kampfe
fur die höchsten Menschenrechte
Sich verblutet, eine Beute
grausam feiger Henkersknechte:

Die im Solde ihres Kaisers
für der Soldateska Ehre
Erst sich schlugen und, geschlagen
von dem bessern deutschen Heere
Heimgekehrt, die Schmach zu rächen,
nun im Namen der Gesetze
Ihre eignen Brüder morden —
eine wilde Menschenhetze!

Kannibalen sind’s der Wüste,
deren Säbel klirrend fallen
Auf der Weiber nackte Köpfe,
in der Kinder schuldlos Lallen;
Kannibalen sind’s der Ordnung,
großgesäugt in unsrer Mitte,
Auf der Brust die Ehrenkreuze,
Wächter strammer Zucht und Sitte,

Die entmenscht, wie Bestien wütend,
ihren Durst im Blute kühlen
Wehrlos hingestreckter Feinde,
deren Leib sie noch zerwühlen
Mit den mörderischen Schüssen,
wenn der Leib im Blut, dem roten,
Schon erstarrte, und verhallt ist längst
der letzte Fluch des Toten.

Doch ob auch der Fluch verhallet,
fortgetragen von den Lüften
Grollt sein Echo durch die Erde,
todesröchelnd aus den Grüften,
Die von Kalk ein Leilach decket,
nasses Feuer, das sich zischend
über seinen Opfern schließet,
Tod und Leben schrecklich mischend.

Dieses Echo pflanzt sich weiter;
aus der Erde Eingeweiden
Ringt sich’s los und schreit nach Rache,
Rache fort durch alle Zeiten;
Mütter singen’s ihren Kindern
eine neue Marseillaise,
Dumpf wie Geisterchor erhebt sich’s
von dem alten Pere Lachaise.

Nicht umsonst hast du geblutet,
wackres Volk am Seinestrande,
Das Gedächtnis deiner Taten
wandelt um durch alle Lande.
Als ein rot Gespenst umschleicht es
schreckhaft deiner Mörder Träume,
Trauft aus tausend Wunden ihnen
Gift in die Champagnerschäume.

Denn hohlaugig, ungeladen,
wie einst unter Macbeths Gäste
Trat der Geist des Schottenkönigs,
tritt es ein in ihre Feste,
Schreckt sie auf im Arm der Wollust;
aus dem üppig reichen Mahle
Zischeln Schlangen, und es werden
Totenschädel die Pokale.

Nicht umsonst hast du geblutet
wackres Volk am Seinestrande
Das Gedächtnis deiner Taten
wandelt um durch alle Lande,
Kehrt, ein Cherubsgruß der Freiheit,
ein, wo gute Menschen wohnen,
Schlingt ein einig Band der Liebe
um die Volker eller Zonen.

Um die Armen und Bedrückten
jedes Stammes, allerorten
Daß sie all aus West und Osten,
von dem fernsten Siid zum Norden
Ohne Unterschied der Farbe,
schwarze Sklaven, weiße Knechte
Solidarisch sich verbünden
zur Verteid’gung ihrer Rechte.

So wie du in Schutt verwandelt
jene Saule blut’gen Ruhmes,
Die von Siegen dir erzählte
eines schnöden Kaisertumes,
Wie aus Schul und Haus du jagtest
deiner Priester falsche Götzen,
An des toten Wortes Stelle
Lebenskraft und Tat zu setzen —

Also falle jede Schranke,
welche Menschen feindlich trennet,
Damit jeder seinesgleichen
in dem andem froh erkennet!
Jeder Wahn und Aberglaube
sei getilgt von unsrer Erde,
Daß es Licht im Geist der Menschheit,
daß es endlich Wahrheit werde.

Jenes Wort der Evangelien
aus des Menschensohnes Munde
Von der Eintracht aller Völker,
von dem großen Bruderbunde,
Drin kein mehr gilt und kein minder,
Hohe nicht und Niedre scheinen,
Wo ein jeder steht für alle
alle stehen für den einen.

Nicht umsonst hast du geblutet,
wackres Volk am Seinestrande,
Das Gedächtnis deiner Taten
wandelt um durch alle Lande;
Was du sätest, reift zur Ernte
trotz Gewalt und Blei and Eisen,
Trotz Verleumdung, Spott und Lüge,
die jetzt mächtig sich erweisen

Triumphierend wird die Menschheit
preisen dich in späten Tagen
Als die ersten, die das Banner
einer neuen Zeit getragen.
Deine Worte, deine Werke
die Geschichte wird sie richten
Und die Zukunft sie erfüllen —
gleiches Recht und gleiche Pflichten!

Hedwig Henrich-Wilhelmi (1872)
in Sturmvögel (1888)