Bruder, man betrügt dich. Unsere Interessen sind dieselben. Das, was ich fordere, willst auch du. Die Befreiung, die ich verlange, ist auch die deine. Was kommt es darauf an, ob Land oder Stadt, wenn ihm, der allen Reichtum dieser Welt erzeugt, Brot, Kleidung, Obdach und Hilfe mangeln? Was kommt es darauf an, ob der Bedrücker, Großgrundbesitzer oder Industrieunternehmer heiße?
Bei dir wie bei uns ist der Tag lang und hart und bringt nicht einmal so viel ein, wie die leiblichen Bedürfnisse verlangen. Du entbehrst ebenso wie ich die Freiheit, die Muße, das Leben des Geistes und des Herzens. Wir beide, du und ich, sind immer noch die Vasallen des Elends.
Seit fast einem Jahrhundert, Bauer, armer Taglöhner, erzählt man dir, daß das Eigentum die heilige Frucht der Arbeit sei, und du glaubst es. Aber öffne doch deine Augen und blicke um dich. Sieh selber zu, und du wirst sehen, daß das eine Lüge ist. Du bist alt, du hast dein Leben lang gearbeitet, hattest Tag für Tag von früh bis abend den Spaten oder die Sichel in Händen, und du bist dennoch nicht reich, hast nicht einmal ein Stück Brot für dein Alter. Alle deine Gewinne sind für die mühselige Erziehung deiner Kinder draufgegangen, welche die Konskription dir nehmen wird, oder die, indem sie sich ihrerseits verheiraten, dasselbe Rackerleben führen werden, wie du es geführt hast, und im Elend enden werden, wie du im Elend enden wirst.
Denn sobald sich die Kraft deiner Glieder erschöpft hat, findest du keine Arbeit mehr, du belästigst deine Kinder mit der Last deines Alters, und bald bist du gezwungen, den Quersack auf dem Rücken, in demütiger Haltung von Tür zu Tür um ein verächtliches und kärgliches Almosen zu betteln. Das ist nicht gerecht, Bruder Landmann, findest du nicht?
Du siehst also sehr wohl, dass man dich betrügt. Wenn es wahr wäre, dass das Eigentum die Frucht der Arbeit ist, müsstest du Eigentümer sein, du, der du so viel gearbeitet hast. Du besäßest jetzt dieses kleine Häuschen mit dem Garten und Zaun, das der Traum, das Ziel, die Leidenschaft deines ganzens Lebens war, das du aber nie erwerben konntest, — oder das du vielleicht, du Unglücklicher, nur dadurch erwerben konntest, daß du eine Schuld auf
dich nahmst, die dich aussaugt, dich auffrißt und deine Kinder zwingen wird, sogleich nach deinem Tode, ja vielleicht sogar noch vorher, das Dach zu verkaufen, das dich bereits so viel gekostet hat. Nein, Bruder, die Arbeit schafft nicht das Eigentum.
Das Eigentum überträgt sich durch Zufall oder wird durch List erworben. Die Reichen sind Müßiggänger, die Arbeitenden sind arm — und bleiben arm. Das ist die Regel, alles übrige nur eine Ausnahme. Und das ist nicht gerecht. Deshalb regt sich Paris, das du im Vertrauen auf die Leute, welche ein Interesse haben, dich zu betrügen,
so schwer beschuldigst, deshalb stellt es Forderungen auf, deshalb erhebt es sich und will die Gesetze ändern, die den Reichen alle Macht über die Arbeiter geben. Paris will, dass der Sohn des Bauern eine ebenso gute Erziehung erhalte wie der Sohn des Reichen, und zwar umsonst, in Erwägung, dass die menschliche Wissenschaft das gemeinsame Gut aller Menschen und für die Lebensführung nicht weniger nützlich ist als das Auge zum Sehen.
Paris will, dass kein König mehr da sei, der 3o Millionen vom Gelde des Volkes empfängt und darüber hinaus noch seine Familie und seine Günstlinge bereichert. Paris will, sobald diese große Ausgabe nicht mehr zu machen ist, die Steuern stark vermindern. Paris verlangt, dass es keine mit 2o ooo, 3o ooo und 1oo ooo Fr. bezahlten Ämter mehr gebe, dass nicht mehr ein einzelner Mensch in einem einzigen Jahr das Vermögen mehrerer Familien verzehren dürfe und dass man mit den ersparten Geldern Altersheime für die Arbeiter errichte.
Paris fordert, dass jeder, der nicht Eigentümer ist, keinen Sou Steuer bezahle, dass derjenige, der nur ein Häuschen und einen Garten besitzt, auch noch nichts bezahle, das die kleinen Vermögen leicht besteuert würden und die ganze Steuerlast auf die Reichen falle.
Paris verlangt, dass jene Deputierten, Senatoren und Bonapartisten, welche den Krieg verschuldet haben, die 5 Milliarden an Preußen bezahlen, und dass man zu diesem Zweck ihre Besitzungen verkaufe, samt den sogenannten Krongütern, die wir in Frankreich nicht mehr nötig haben.
Paris verlangt, dass das Gerichtswesen denen, die es brauchen, nichts mehr koste, und dass das Volk selber seine Richter unter den anständigen Leuten des Bezirks zu wählen habe.
Paris wünscht schließlich, hör gut zu, Landarbeiter, armer Tagelöhner, kleiner Besitzer, den der Wucher auffrisst, Häusler, Halbpächter und Pächter, ihr alle, die ihr sät, erntet und euren Schweiß vergießt, damit der Hauptteil eurer Produkte jemandem zufalle, der gar nichts tut, — Paris will zu guter Letzt den Bauern den Boden, dem Arbeiter das Werkzeug, allen aber Arbeit geben.
Der Krieg, den Paris jetzt führt, ist ein Krieg gegen den Wucher, gegen die Lüge und gegen die Faulheit. Man sagt euch: „Die Pariser, die Sozialisten wollen alles aufteilen.“ Nun, ihr guten Leute, seht ihr nicht, wer das zu euch sagt? Sind nicht diejenigen die Enteigner und Teiler, die nichts tun und üppig von der Arbeit der andern leben? Habt ihr noch nie einen Dieb, um von der richtigen Spur abzulenken, ausrufen hören: „Haltet den Dieb!“ und ihn davonlaufen sehen, während man den Bestohlenen festnahm ?
Ja, die Früchte der Erde denjenigen, die sie bestellen! Jedem das seine; allen die Arbeit. Keine ganz Reichen und keine ganz Armen mehr. Keine Arbeit mehr ohne Ruhe und keine Ruhe mehr ohne Arbeit. Das ist möglich; denn es wäre besser, an gar nichts zu glauben als zu glauben, dass die Gerechtigkeit nicht möglich sei. Man braucht dazu nur vernünftige Gesetze, die sofort zustande kommen werden, wenn die Arbeiter sich nicht mehr freiwillig von den Müßiggängern übertölpeln lassen.
Und dann, glaubt uns, Brüder Landwirte, dann werden die Märkte für den Getreidebauer und Viehzüchter bessere sein und reichlichere für alle, als sie es jemals unter irgendeinem Kaiser oder Könige gewesen sind. Denn dann wird der Arbeiter stark und wohlgenährt sein, und die Arbeit wird frei sein von Steuern, Abgaben und Zinszahlungen, die die Revolution nicht alle beseitigt hat, wie es wohl scheinen mag.
Ihr seht also, Landbewohner, die Sache von Paris ist auch die eure, und Paris arbeitet nicht nur für den Arbeiter, sondern auch für euch. Die Generäle, die es in diesem Augenblick angreifen, sind dieselben Generäle, die Frankreich verraten haben. Die Deputierten, die ihr ohne sie zu kennen gewählt habt, wollen uns Heinrich V. wiederbringen Wenn Paris fällt, wird das Joch des Elends auf eurem Nacken lasten und auf den Nacken eurer Kinder. Helft ihm also zum Siege, und was auch kommen mag, merkt euch diese Worte, — denn es wird so lange Revolutionen in der Welt geben,—so lange nicht die Losung gilt:
Die Erde dem Bauern, das Werkzeug dem Arbeiter, die Arbeit für alle!
Die Arbeiter von Paris.
(„Manifest“, verfasst von André Léo und Benoit Malon, gedruckt am 10. April 1871 in der Zeitung „La Commune“, gedruckt in 10. Exemplaren, die durch Ballons in die Provinz gebracht werden sollten. in „Pariser Kommune 1871“, 1931, S. 336 ff.)
„Man kann mit vollem Recht sagen, dass die Verfasser dieser Proklamation es verstanden haben, die wichtigsten und schmerzlichsten Fragen, die die arme Bauernschaft bewegten, zu erfassen; sie hatten es verstanden, in lebendiger und populärer Form die Notwendigkeit eines brüderlichen Bündnisses zwischen städtischem und ländlichem Proletariat zu beweisen und den Ausweg aus jener Sackgasse zu zeigen, in die der Gang der kapitalistischen Entwicklung das Dorf getrieben hatte. « (Lukin Antonow, Moskau, 1926)