Chamfort nannte jene durch die große Revolution von 1789 erledigte Bourbonenherrschaft „eine absolute Monarchie, gemildert durch Chansons“. Und präzisierte damit, dass in Frankreich die Chansons regieren. Frankreich singt zu allen Ereignissen; deshalb steht seine wahre Geschichte, die authentische Überlieferung seines jeweiligen Sprachschatzes, seiner Ideen, seiner Liebe, seines Hasses in Liedern der Straße, die zwar von ästhetischen Sammlungen totgeschwiegen werden, aber allein imstande sind, eine Umwälzung, eine Persönlichkeit populär zu machen. Man ist der Tradition treu geblieben!
Abends bei Schichtwechsel sammeln sich auch heute die Arbeiter der Pariser Fabrikgegenden Belleville und Menilmontant zu Gruppen an allen Ecken, um von Straßensängern die aktuellen Strophen zu lernen; auch heute treibt man politische Kritik in unzähligen Cabarets, für jeden Stadtteil typisch in Stil und Argot. In den neunziger Jahren vereinigten diese Stätten eine Dichtergeneration, wie Privas, Richepin und den gewaltigen Bruant, die sogar in Zunftkreisen anerkannt wurde, ja selbst in der Académie Aufnahme fand. „Ils ont mal tourné —— sie haben ein böses Ende genommen! nennt man das auf Montmartre.
In etwas unruhigeren Zeiten, zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, bestanden solche Lokale in Kellerhöhlen, den berühmten Caveaux: Béranger hat dort in seinen klassischen Liedern die letzten Reste monarchistischen Empfindens konsequent verletzt und ausgerottet.
Aber vor allem gibt es vier Chansons, vier große Barrikadengesänge, die in der französischen Kulturgeschichte Etappen bedeuten wie ungefähr bei uns die Weimarer Dichter— und Denkerepoche, der Bismarckische Kulturkampf, der Bau der Siegesallee und die Übersiedelung Wilhelms nach Amerongen. Ihre Biographien kennzeichnen die Phasen der Klassenkämpfe : Die ersten Revolutionsjahre beherrschte das „Ca ira — “ nach einer Redensart Benjamin Franklins, (ca ira -— es wird schon gehen!), die sprichwörtlich wurde. Nach dem Bastillesturm sangen es Hunderttausende auf dem Marsfelde bei den Vorbereitungen zum „Verbrüderungsfeste“; — später erhielt es noch einen Schlußvers mit der sanften Ermahnung, die Aristokraten an die Laterne zu hängen:
Ah ——- ca ira, ca ira, ca ira
Les aristocrates a la lanterne!
Ah —— ca ira, ca ira, ca ira,
Les aristocrates, on les pendra!
Mit ihm konkurrierte die von viel wilderem Hass durchschwungene Carmagnole. Ein Tanzlied der Guillotinen; gegen das Königspaar, Madame et Monsieur Veto genannt; eine Strophe in Übersetzung etwa lautend:
„Madame Veto wollte befehl’n
Paris ganz einfach abzukehl’n;
sie konnt ihr Plänchen nicht vollführ’n
Dank unsern braven Kanoniern.
Tanzet die Carmagnole,
Hoch das Kanonengedröhn!
Beide Lieder verbot Bonaparte als erster Konsul; sie begleiteten aber auch alle kommenden Revolutionen. Die Carmagnole lebt heute noch gleich der Marseillaise. Die Marseillaise war ursprünglich von dem Offizier Rouget de l’Isle gegen den mißlungenen militärischen Spaziergang der Koalitionsheere nach Paris verfaßt; wurde populär bei einem Bankett der Jakobiner in Marseille und von ihnen in Paris beim Sturm auf die Tuillerien gesungen; verboten nach dem Sturze Robespierres und dann von den zurückgekehrten Bourbonen; Kampflied einst der revolutionären Bourgeoisie.
Diese drei Lieder sind national und zeitlich begrenzt; das Lied unserer Zeit ist die Internationale, entstanden während der Commune in den Maitagen von 1871 beim Ausbruch der proletarischen Freiheitskämpfe, in denen wir heute stehen.
Eugene Pottier schrieb sie. Ein Proletarier, Sohn eines Parkknechtes. Geboren 1818 zu Paris; begann als Zeichner; 1848 stand er in den Reihen der Revolutionäre; nach dem Sturze Napoleons III. 1871 schloß er sich der Commune an als Barrikadenmann und Dichter des Proletariats; bei den Ergänzungswahlen des April wurde er fast einstimmig gewählt, arbeitete an Dekreten über die militärischen Aushebungen, an dem Wohnungswesen, der Bildung des Comitee du Salut public.
Nach dem Einzug der Versailler kämpfte Pottier bis zuletzt und flüchtete sich nach der endgültigen Niederlage nach Amerika. Auch als er zurückkehrte auf Grund einer Amnestie, die er selber verhöhnte, blieb sein Leben nur Elend, ohne Anerkennung, aber immer rebellisch. Gustave Nadaud, der Chansonmeister des Quartier Latin, besorgte die erste Ausgabe der Pottier—Gedichte unter dem Titel: Quel est le fou«? (Wer ist der Narr ?) seine Begegnung mit dem Dichter — im Vorwort geschildert —— ist wesentlich:
„Pottier kam; aber in welchem Zustand! Alt, weißhaarig, halb gelähmt, und arm, arm! Wir baten ihn um das Chanson, das vor 35 Jahren so starken Eindruck auf uns gemacht hatte. Er sang es mit einem Rest von Wärme. Nur so viel Leben war noch gerade in ihm, das er singen konnte. Man stellte ihn vor die Wahl: eine Sammlung für ihn (das traurige Wort mußte heraus!) oder eine Veröffentlichung seiner Lieder. Oh, er zögerte keinen Augenblick! „Man gebe meine Werke heraus, und wenn ich Hungers sterbe!“ Dieses Wort bestimmt seinen Charakter!
Pottier wollte in Dichtung und Tat nur eins: Propaganda der kommunistischen Freiheitsidee! seine unsterbliche Kraft bescheinigten ihm die Ordnungsmänner der dritten Republik, als sie nach seinem Tode (6. November 1887) eine Provokation der Leidtragenden in Szene setzten.
Die vorliegende erste deutsche Auswahl seiner Gedichte ist den „Chants revolutionnaires“ (Paris 1887) entnommen· Henri Rochefort schrieb im Vorwort: „Es ist Zeit, dass dieser Dichter seinen Rang unter denen einnimmt, die man liest, wieder liest und zitiert. . . . Nach den Massakern von 1871 hat der alte Mitstreiter Pulver gerochen, alles vergessene Blut ist ihm in die Kehle gestiegen. Oh die Herren von Versailles können ruhig sein. Ihr Andenken wird nicht untergehen. sie haben ihren Juvenal gefunden:
Hier war’s, wo Schlachthaus und Abdeckereien drohten!
Von Mauern stürzt ins Grab der Opfer Überrest.
Hier häuften Schlächter auf die namenlosen Toten
Und sah’n die Zukunft nicht, die sich nie einscharr’n lässt.
Die Krone von Paris dem treuen Kameraden,
Auf einer Leichenstatt fand sie ihr blutiges End.
Errichten wir die Barrikaden
Als unser Bündnis—Monument!
„Bisher hat das Volk immer nur die Lieder gesungen, die für jedermann bestimmt waren — es ist endlich Zeit, dass es nur die Lieder singe, die ihm allein gelten!“, fordert J. B. Clement, der andere Commune—Dichter, auch er Proletarier, aufgewachsen als Handwerker ohne höhere Schulbildung, Propagandist der kommunistischen Idee in seinen Chansons. Mitkämpfer der Commune, „ausgewiesen durch dieselbe Republik, die vorher die Monarchie aus dem Lande getrieben hatte“ sein Hass galt gleich stark kapitalistischer Ausbeutung wie religiösem Gewissenszwang. („Es würde mir nicht schwer fallen, zu beweisen, dass die Glaubenslehren, weit davon entfernt, die Menschen zu einigen, sie immer getrennt haben!“)
Jean-Baptiste Clément: wurde 1837 in Boulogne sur Seine geboren; als politischer Schriftsteller und Waffenträger gegen die Bourgeoisie mehrmals zu Gefängnis und Verbannung verurteilt, immer treu seinem Grundsatz: „man müsse mit allen Mitteln, durch Zeitungen, Bücher, Broschüren, Wort und Lied das Volk dazu bringen, sein Elend zu erkennen, sich mit seinen Interessen zu befassen, und so die Stunde der Lösung des großen sozialen Problems beschleunigen“ Er starb im März 19o3.
Einige seiner Dichtungen wurden — als Kontrapunkt zu denen Pottiers — hier aus seinen gesammelten „Chansons“ ausgewählt· Französische Lyrik wurde bisher in deutscher Sprache nur nach den Gesichtspunkten der gerade zur Mode gewordenen Kunstanschauung übermittelt. Vorenthalten blieb, was gegen die Gesetze des Staates und der Literatur verstieß. Eine der wenigen Anthologien, die das so kräftige Element sozialer Dichtung in Wirkung lassen, ist die „,Französische Lyrik“ meines Vaters Sigmar Mehring, der — teilweise aus dem Manuskript — vier Übertragungen, darunter die der „Internationale“ für dieses Buch entnommen wurden.
Diese erste deutsche Auswahl aus Pottier und Clement bedeutet also Ergänzung bürgerlicher Goldschnittbändchen, Gegengewicht gegen redjgierte Schulausgaben, und im Sinne der Verfasser: Propaganda der Chansons! Der deutsche Text folgt im Versmaß genau dem Original.
Walter Mehring, 1924, Vorwort zu „Französische Revolutionslieder“