Über die Dächer der Märzwind pfeift

Über die Dächer der Märzwind pfeift
heimliche Melodien,
über die Türme, über den First
rötliche Wolken ziehen.
In dem Gebälke zittert und nagt
stöhnend ein keimendes Wetter;
leise klingt es und singt es und sagt
durch die schwankenden Bretter.
Seht, wie die Mauern erbeben!
Es löst sich ihr alternder Bund…
Und aus dem erzitternden Grund
steigt neues, wallendes Leben

Ja, die da starben, sie sind nicht tot,
traf sicher sie auch das Blei,
und riß der Flinten brennendes Schrot
das tapfere Herz auch entzwei.
Und senkten sie auch das zerschoßne Gebein
in der Erde wärmende Nacht,
in die schweigende, friedliche Gruft hinein
in den stillen, den düsteren Schacht;
und brach auch der sterbende, trotzige Blick
der hell in die Zukunft gestrebt
und kehrten die Leiber zum Urstoff zurück —
wir sagen es dennoch: Ihr lebt!

Wir sagen es dennoch: Hoch über der Gruft
lebt eure unsterbliche Seele
in lenzeskündender Märzenluft
und flüstert ihre Befehle.
Die Zeiger der großen Weltenuhr
gehn sicheren Schrittes weiter,
und Stunde für Stunde wird eure Spur
Heller, tiefer und breiter…

Über die Dächer der Märzwind pfeift.
Und es lauschen Millionen,
wie er durch fallende Blätter streift,
durch die Wipfel und Kronen.
Und wir wissen: was heut noch stolz
aufragt am bebenden Stamme,
sinkt schon morgen als dürres Holz
nieder in Staub und Flamme

Ewiger Wechsel durchatmet die Welt,
und hätten sich alle verschworen,
zu binden, was lose, zu halten, was fällt —
das Neue wird doch geboren!
Drum steht zu dem Jungen, das werden will
und grollend sich meldet im Märzen;
und sind die Toten auch stumm und still —
sie leben in unseren Herzen!

Ernst Preczang, um 1910