MAIENGRUSS
Zwei Sonette
Der Mai ist da! Es sind dieselben Laute
Dieselben Düfte, die mich oft berauscht
Wenn ich in mondumflossner Nacht gelauscht
Was Rose sich und Nachtigall vertraute.
Dasselbe All ist’s, das ich damals schaute
Allein das Lied, das durch die Wipfel rauscht
Ist nicht wie sonst; in Racheschrei vertauscht
Und dumpfes Weh sind seine Liebeslaute
Denn Mai auch war’s, die letzten Maientage —
Als vor zwei Jahren an der Seine Strand
Ein Volk verblutet und mit einem Schlage
Freiheit und Recht erstarb in Mörderhand
Drum tönet heut in Grimm und düstrer Klage
Mein Maiengruß weit über Meer und Land
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Ein Maiengruß, in dem die süßen Düfte
Wie Pulverdampf, der Nachtigallen Lied
Wie Todeswimmern durch die Seele zieht!
Ein Maiengruß, der durch die freien Lüfte
Sein Echo trägt bis in die fernsten Klüfte,
Nach denen einsam der Verbannte flieht
Dem jede Sonne, wenn sie rot verglüht,
Vom Blut zu dampfen scheint der heimschen Grüfte
Ein Maiengruß, der durch das Mark der Erde
Hinab bis in die tiefsten Kerker dringt
Und dort vom Frühling nicht, von ödem Herde
Von Schmach, Verrat und Tod nur Kunde bringt
Ein Schlachtenruf, der an den Ketten schüttelt
Und arme Träumer aus dem Schlafe rüttelt!
Hedwig Henrich-Wilhelmi, 1873